Berliner Mauerstück

Ein Stück Berliner Mauer in Bremen

Auf dem Platz vor dem Bremer Überseemuseum steht ein Stück Berliner Mauer. Ein Bruchteil der 155 Kilometer Beton und Stacheldraht, die zwischen 1961 und 1989 Berlin trennten. Familien trennten. Liebende trennten. Menschen trennten. Meist unwiederbringlich.

Eine Weile stehe ich vor diesem Stück Erinnerung und stelle fest: Es weckt nicht das Gefühl, mit dem ich gerechnet habe. So etwas wie Bedrückung. Mein Gefühl beim Betrachten ist eher ein warmes. Nicht weil die Symbolik der Mauer so wohltuend ist. Nein. Wohltuend ist hier die Kunst. Denn vor dem Bremer Überseemuseum steht kein naturbelassenes oder graffitibeschmiertes Stück Mauer, sondern eins, das künstlerisch bearbeitet wurde: eine schwarze Figur auf weißem Hintergrund, gefesselt von einer Eisenkette. Schwarzgeschriebene Worte entzweien die Figur, so wie die Mauer Berlin entzweit hat.

Sand, Steine, Beton, Todesmauer
Sand, Steine, Beton, Todesmauer

Dem Berliner Bildhauer Ben Wagin ist es gelungen, die Symbolik der Mauer künstlerisch zu erfassen. Dabei wirkt das Mahnmal nicht erdrückend. Denn zwischen dem Grauen und dem Betrachter steht die Kunst. Und die Kunst ist notwendig. Damit das Grauen sichtbar wird. Und auch erträglich. Ein würdiges Gedenken an die mindestens 140 Menschen, die beim Versuch, die Mauer zu überwinden, starben. Das ist es, was ich hier als wohltuend empfinde.

Sand, Steine, Beton, Todesmauer
Sand, Steine, Beton, Todesmauer

Ich kenne die Berliner Mauer. Ich kenne sie aus Zeiten, als sie noch nicht zerstückelt war, sondern intakt und ihren düsteren Dienst leistete. Ein Jahr verbrachte ich in Ostberlin. Das Jahr bevor die Mauer fiel. Es fühlte sich an, als würde ich direkt ins wahre Gesicht des Kommunismus blicken, zum ersten Mal. Dabei kam ich aus Bulgarien, auch einem kommunistischen Land. Ich kam aus einer Familie, in deren DNA brutale kommunistische Gewalt gespeichert war. Ich hatte einen Vater, der die Kommunisten hasste und tagtäglich gegen sie wetterte. Seine Unversöhnlichkeit mit dem menschenverachtenden System gab er an mich weiter.

Dennoch trug der Kommunismus in Bulgarien südländische Züge und spielte sich auf einer sinnlichen Kulisse ab. „Bulgarischer Kommunismus“ bedeutete Disziplinlosigkeit und Inkonsequenz. Es bedeutete Unberechenbarkeit und desolate Arbeitsmoral. Es bedeutete Gier und Vetternwirtschaft. Es bedeutete aber auch, dass Beziehungen – familiäre, nachbarschaftliche oder auch zwischen Freunden –, dass menschliche Beziehungen wichtiger waren als die Loyalität zur kommunistischen Idee. Dieser Umstand machte den bulgarischen Kommunismus etwas weicher. Neben der Sonne und den himmlisch schmeckenden Lebensmitteln.

Im Osten Berlins erlebte ich Strenge, ich erlebte Unerbittlichkeit, ich erlebte unmittelbare Lebensgefahr, ich erlebte Soldaten, ich erlebte Waffen, ich erlebte, wie das System in die Beziehungen eingriff und sie zerstörte. Ich erlebte Angst. Sehr viel Angst.

Sand, Steine, Beton, Todesmauer
Sand, Steine, Beton, Todesmauer

Im Herbst 1989 erlebte ich dann einen todesmutigen Widerstand. Einen Widerstand, den es in Bulgarien nicht gab. Meine Landsleute waren eher ängstlich und auch bequem. Sie lebten gern in ihrer Komfortzone und brachten ungern ihre Familien in Gefahr. Die Ostdeutschen hingegen protestierten, sie gingen aufs Ganze, sie riskierten ihr Leben. Woche für Woche. Montag für Montag. Wie ich die Ostdeutschen dafür respektierte, wie ich sie bewunderte.

Wenn ich an die Montagsdemos denke, schießen mir Tränen in die Augen. Bis heute noch. Und ich halte es nicht aus, dass Feinde der Demokratie ihre Symbolik vereinnahmen. Dann fiel über Nacht und zur allgemeinen Verblüffung die Mauer. Nein, es lag nicht in der Luft. Nein, es war nicht zu spüren. Trotz Glasnost und Perestroika, trotz Protesten, trotz überfüllter Züge in Richtung Budapest und Prag. Keiner hat mit dem Mauerfall gerechnet. Man rechnete eher mit Panzern. Oder man wusste nicht so genau, womit man rechnete. Jedenfalls nicht damit, dass die Mauer fallen würde.

Sand, Steine, Beton, Todesmauer
Sand, Steine, Beton, Todesmauer

Am Abend, als die Mauer fiel, war ich im Krankenhaus. Als ich es Monate später verlassen durfte, war die Welt eine andere. Sofort lernte ich ein neues Wort kennen. Ausländerin. In der neuen Welt war ich eine Ausländerin. Meine Herkunft war plötzlich etwas, was mich von den anderen trennte. In der DDR hatte ich dieses Wort in Verbindung mit mir noch nicht gehört. Der Kommunismus schrieb sich Internationalismus auf die Fahnen und deckelte alles, was dazu nicht passte. In der neuen Welt knallten sämtliche Deckel hoch.

Neben vielem anderen entdeckten die Ostdeutschen, dass sie Deutsche sind. Und es gefiel ihnen anscheinend. Es trennte sie von Menschen wie mir. Es förderte Glatzköpfe und Springerstiefel zutage. Ich bekam Angst und verließ gern das neue deutsche Berlin. Ich kam in das hübsche, liberale, weltoffene Bremen und brachte die Mauer mit. „Du sprichst wie eine Ostdeutsche“, bekam ich hier zu hören. „Du verstehst den Kommunismus nicht richtig“, bekam ich auch zu hören. Die Idee sei gut. Ihre Umsetzung sei misslungen. Als sei der Kommunismus eine hübsche Idee an sich und kein Konzept dafür, wie man eine Gesellschaft organisiert.

Wo ist die Umsetzung dieser hübschen Idee weltweit gelungen? Endete nicht jeder Versuch in einer menschenverachtenden Diktatur? Daran erinnert das Stück Berliner Mauer vor dem Bremer Überseemuseum.

Sand, Steine, Beton, Todesmauer
Sand, Steine, Beton, Todesmauer