Die Alexander von Humboldt

Grafik der Alexander von Humboldt in Orange

Die Alexander von Humboldt

Lassen Sie ruhig einmal Ihren Blick über den grünen Rumpf schweifen, die gelben Masten emporklettern, über 30 Meter in die Höhe, auf der Suche nach den bekannten grünen Segeln, majestätisch gebläht, Rahsegel, Vorsegel, Stagsegel und Besane. Aber nein. Hoffnungslos letzteres Unterfangen. Die Segel sind gerefft oder sogar für den Winter abgenommen und unsere Augen sind gewiss nur ein beschränktes Werkzeug, um sich dieser alten Dame anzunähern.

Wagen Sie den Gang durch das metallene Tor, über den Steg.
Setzen Sie einen Fuß auf die ächzende Bark.
Verkommen ist sie ganz und gar nicht.
Vielmehr in Würde gealtert.
Heimgekehrt.
Über hundertjährig.
Durchdrungen von der großen weiten Welt.
Sie ruht.
Gönnen Sie ihr diesen wohlverdienten Ruhestand.

Seitenansicht des Großseglers "Alexander von Humboldt" auf der Weser. Im Hintergrund ist die St. Martini Kirche zu sehen.
WFB/Ingrid Krause, Schlachte – Alexander von Humboldt

… auf der Suche nach den bekannten grünen Segeln …

Nähern Sie sich dem metallenen Schiffskörper vertraulich, aber voller Respekt.
Tonnenschwerer Erinnerungsspeicher.
Schließen Sie die Augen.
Lassen Sie ihre Hände über die unzähligen Lackschichten gleiten.
Spüren Sie den Atem der Welt? Das Heben und Senken tausender Meere?
Grüßen Sie die alte Dame.
Legen Sie ihr Ohr an das kühle Metall.
Lauschen Sie.
Lauschen Sie mit verschlossenen Augen.
Lauschen Sie dem Nachhall der Gezeiten,
Flut und Ebbe.
Gute Zeiten.
Und schlechte Zeiten.

Blick auf das Oberdeck der "Alexander von Humboldt". Die Bootsbeschriftung erstrahlt in der Sonne.
Oberdeck Alexander von Humboldt

Spüren Sie den Atem der Welt?

Lauschen Sie den Flügelschlägen
dem Heulen
dem Knarzen
dem Schäumen
den kehligen Gesängen
Hornsignalen
Glockenschlägen
Trillerpfeifen
all den notwendigen Befehlen
und geschenkten Geständnissen
dem Kreischen
Klopfen
Schrubben
Töpfeklappern.
Dem Keckern der Delfine
dem Blasen der Wale
dem schrillen Fiepen der Seeschwalben.
Lauschen Sie überwältigenden Brechern
und friedlichem Schwappen
dem Plätschern
dem Murmeln
dem Brodeln
dem Säuseln
dem Wimmern
dem Brüllen
dem Zischen
dem Gurgeln
dem dumpfen Rumoren.
Lauschen Sie dem Laut der Tiefe
und der Weite.

Lauschen Sie dem Meer.
Geburtsstätte alles Lebendigen.

Lauschen Sie
voller Sehnsucht.

Lernen Sie von dieser alten Dame.

Anke Bär